Selbst und Welt

Werke aus der Sammlung

Einführung

Einführung

Was für Kunstwerke befinden sich in der Sammlung des Nidwaldner Museums? Und wie lassen sich diese Werke charakterisieren? Noch heute, rund fünfzig Jahre nachdem die Kunst aus der Zentralschweiz mit dem Etikett der «Innerschweizer Innerlichkeit» versehen wurde, haftet ihr in der öffentlichen Wahrnehmung eine Tendenz zur Introspektion an. Doch der Blick ins Depot zeigt, dass sich Nidwaldner Kunstschaffende neben der Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst stets mit dem Weltgeschehen und den internationalen Kunstströmungen befasst haben. Gerade dort, wo die Enge des regionalen Raums auf die Auseinandersetzung mit der weiten Welt trifft, wird es spannend. Deshalb bildet das Wechselspiel zwischen Selbst und Welt den roten Faden der kunst-historischen Dauerausstellung. Es werden Verbindungen freigelegt zwischen dem Kunstschaffen Nidwaldens und dem internationalen Kunstgeschehen.

Innerlichkeit?
Doch was genau bedeutet eigentlich «Innerlichkeit»? In der Philosophie bezieht sich dieser Begriff auf die Bewusstseinsprozesse, Gedanken und Emotionen, die dem Subjekt eigen sind und sich von der äusseren Welt, der «Aussenwelt», unterscheiden. Innerlichkeit kann als Introspektion betrachtet werden, aber auch als Rückzug des Individuums aus der Welt. Der Kirchenlehrer Augustinus sah den Weg zur Gewissheit im Inneren: «Gehe nicht nach draussen, kehre in dich selbst ein; in der inneren Welt des Menschen liegt die Wahrheit.» Im kulturellen Bereich wurde die Introspektion oftmals positiv bewertet, wie der Nachruf auf den Stanser Bildhauer Eduard Zimmermann (1872 –1949) verdeutlicht. In den Basler Nachrichten hiess es: «Wenn wir Eduard Zimmermanns Kunst richtig zu verstehen suchen, dann müssen wir uns zuerst von allem gewollten Künstlertum abwenden, um jene andere Welt aufzusuchen, wo die Kunst aus dem Menschen herauswächst, und nur um ihrer selbst willen emporblüht.» Zimmermanns Skulpturen seien nämlich «so verinnerlicht und so grundbescheiden wie ihr Schöpfer».
Während «Innerlichkeit» als ästhetisch-philosophische Kategorie und mentale Haltung eine lange, wenn auch umstrittene Geschichte aufweist, tauchte der Begriff «Innerschweizer Innerlichkeit» um 1970 auf, zu einer Zeit, als die Globalisierung eine neue Intensität erreichte. Gewissermassen als Gegenbewegung gewann das Regionale, das Eigensinnige und das Subjektive an Bedeutung. Der Kurator Jean-Christophe Ammann organisierte 1969 im Kunstmuseum Luzern die Ausstellung «Kunst der Abseitigen», während Harald Szeemann an der documenta 5 in Kassel «individuelle Mythologien» zelebrierte und der Kunsttheoretiker Theo Kneubühler 1972 den «Individual-Anarchismus», die Provinz und das Private zum eigentlich Interessanten erklärte.
Besonders die Zentralschweiz wurde als Hort der Innerlichkeit wahrgenommen. Allerdings herrscht noch nicht einmal Einigkeit darüber, ob die Bezeichnung «Innerschweizer Innerlichkeit» als treffend zu betrachten ist. Während einige behaupten, dass sie bis heute nachwirke, argumentieren andere, sie habe nie existiert und gehöre ins Reich der Mythen. Die Kunsthistorikerin Silvia Henke hat das Dilemma treffend beschrieben: «Nun ist es beim Mythos der ‹Innerschweizer Innerlichkeit› wie bei allen Mythen: sie sind nicht ganz wahr, aber auch nicht ganz falsch. Und vor allem: sie können selten ganz zerstört werden.»

Selbst und Welt
Im Hinblick auf die Sammlung des Nidwaldner Museums ist es angebracht, die These der «Innerschweizer Innerlichkeit» mit kritischer Distanz zu betrachten. Innerschweizer Kunstschaffende waren schon immer gut vernetzt und bewegten sich keineswegs abseits der Welt. Stattdessen erweist sich der Fokus auf das Wechselspiel zwischen individuellem Schaffen und der Welt als äusserst fruchtbar. Kunstschaffende wie Melchior Paul von Deschwanden (1811–1881), Hans von Matt (1899 –1985) oder Gertrud Guyer Wyrsch (1920–2013) begaben sich auf Reisen, um in Metropolen wie München, Paris oder Florenz zu studieren. Einige von ihnen kehrten in ihre Heimat zurück, während andere sich in Luzern, Zürich oder im Ausland niederliessen. Wieder andere fanden erst spät den Weg nach Nidwalden, wie beispielsweise die gebürtige Luzernerin Liselotte Moser (1906 –1983), die den Grossteil ihres Lebens in Detroit verbrachte, bevor sie im Juni 1965 nach Stans zog.
Nidwalden war keineswegs von der Aussenwelt abgeschottet. Internationale Künstlerinnen und Künstler statteten der Region Besuche ab, und internationale Kunstströmungen fanden ihren Weg bis in die Ateliers der hiesigen Kunstschaffenden. Die Karriere von Jakob Joseph Zelger (1812–1885) erhielt einen Schub durch einen Auftrag für Queen Victoria von England, die sich 1868 in der Schweiz aufhielt. Nachdem er sechs Ölgemälde und zwei Aquarelle für die Queen angefertigt hatte, wünschten sich viele wohlhabende englische Touristen ebenfalls Werke dieses Malers, der ein Atelier in Luzern betrieb. Melchior Paul von Deschwandens religiöse Gemälde fanden den Weg bis nach Brasilien. Dank Hans von Matt wehte Ende der 1920er-Jahre ein dadaistischer Wind durch Stans. Ein bemerkenswertes Ereignis war auch das «Wiener Festival», das vom 12. bis 20. April 1969 im Chäslager stattfand und für Aufsehen sorgte, inklusive eines Polizeieinsatzes.
Ein Blick in die Sammlung offenbart noch etwas Weiteres: Es wurde nicht nur mit einem lokalen Fokus gesammelt. Davon zeugen die Werke aus der Dauerleihgabe der Frey-Näpflin-Stiftung. Über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren hat das Ehepaar Ruth und Anton Frey-Näpflin eine beeindruckende Sammlung von Gemälden, Skulpturen und kunsthandwerklichen Objekten zusammengetragen. Neben Werken aus der Zentralschweiz und der Schweiz umfasst sie auch bedeutende Werke flämischer, italienischer und französischer Meister, darunter Werke aus der Werkstatt von Peter Paul Rubens und Anthonis van Dyck. Erwähnenswert sind auch die Druckgrafiken aus der Dauerleihgabe von Karl und Maja Meder, die Werke von Künstlern wie Christo Javacheff (1935– 2020), Verena Loewensberg (1912 –1986), Max Bill (1908 –1994) und Markus Raetz (1941–2020) umfasst.
In der Ausstellung wird das Wechselspiel zwischen Selbst und Welt somit nicht nur in den Künstlerbiografien deutlich, sondern auch in der Zusammenstellung der Werke. Lokale, nationale und europäische Kunst findet sich gleichberechtigt nebeneinander und erzeugt überraschende Gegenüberstellungen.

Gebäude und Themenbereiche
Die Ausstellungsräumlichkeiten im Nidwaldner Museum sind alles andere als ein steriler White Cube. Das historische Winkelriedhaus, das bereits um 1450 errichtet und später erweitert und umgebaut wurde, besticht durch seine einzigartige Architektur. Die Säle, Zimmer und Kammern des Gebäudes besitzen ihren jeweils eigenen Charakter und unterscheiden sich deutlich voneinander. Die Architektur ist selten zurückhaltend. Stattdessen prägen starke formale Elemente den Raum, die nicht nur die Gestaltung von Wänden, Decken und Böden umfassen, sondern auch in den Raum selbst hineinwirken. Hierzu zählen prächtige Kachelöfen und kunstvoll gestaltete Säulenelemente.
Diese Ausgangslage stellt sowohl eine Herausforderung als auch eine Chance für die Kuratierung der Ausstellung dar. Das Konzept zielt darauf ab, dass die Kunstwerke mit den historischen Räumen in einen Dialog treten und sich gegenseitig in ihrem Charakter und ihrer Strahlkraft verstärken. Der Rundgang durch die Ausstellung folgt dabei den räumlichen Gegebenheiten: Er beginnt im dritten und endet im ersten Stock, wo das Motiv des «Memento mori» auf einem Kachelofen und auf mehreren Fresken den passenden Abschluss bildet. Dabei wird der Rundgang durch verschiedene Themenbereiche strukturiert, darunter das Atelier, mythologische und biblische Themen, Natur- und Landschaftsdarstellungen sowie die Auseinandersetzung mit Körper, Tod und Transzendenz. Auf eine chronologische Abfolge wird hingegen bewusst verzichtet. Dadurch entsteht ein spannender Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der zeitliche Bogen spannt sich vom 16. bis ins 21. Jahrhundert.
Auch in den verschiedenen Themenbereichen fällt das Wechselspiel von Selbst und Welt auf. In den präsentierten Werken manifestieren sich der jeweils individuelle Stil ebenso wie die Tendenzen der vorherrschenden europäischen Kunstströmungen.

Atelier

Atelier

Im Atelier nimmt alles seinen Anfang. Es ist ein Ort der Kreativität, an dem Ideen entstehen, entwickelt und umgesetzt werden. Dieser Gedanke kommt programmatisch in der Hand des Künstlers [1] von Eduard Zimmermann zum Ausdruck. Es ist der Künstler, der schafft und die Welt um sich herum gestaltet. Das Atelier beherbergt zudem wichtige Informationen über den künstlerischen Prozess, die Arbeitsmethoden und die Techniken der Kunstschaffenden. Es ist vielleicht gerade deshalb ein Ort, der für Aussenstehende meist verschlossen bleibt. Der erste Themenbereich widmet sich aber vor allem aus konzeptionellen Gründen dem Atelier: In der Ausstellung geht es stets um die künstlerische Perspektive, um die Auseinandersetzung der Kunstschaffenden mit sich selbst und der Welt.
Durch die Selbstbildnisse stellen sich die Kunstschaffenden, die in der Ausstellung erneut auftauchen, gleichsam selbst vor. Zudem verrät die Art und Weise, wie sie sich verewigt haben, viel über ihr individuelles künstlerisches Selbstverständnis. Nicht nur Johann Melchior Wyrsch, einer der bekanntesten Schweizer Porträtmaler seiner Zeit, schaut uns mit Selbstvertrauen entgegen [9]. Auch die Künstlerinnen Liselotte Moser [5+6], Annemarie von Matt [16] und Gertrud Guyer Wyrsch [14+15] zeigen sich selbstbewusst beim Malen, oft mit Pinsel, Farbpalette und Staffelei.
Über lange Zeit waren die Möglichkeiten für Frauen, einen künstlerischen Beruf zu erlernen, stark eingeschränkt. Obwohl es zu allen Zeiten vereinzelt Künstlerinnen gab, wurden Frauen erst vor etwa hundert Jahren offiziell als Studentinnen an Kunstakademien zugelassen. Die Rolle und das Selbstverständnis von Kunstschaffenden veränderten sich generell an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Traditionelle Konzepte von Kunst wurden in Frage gestellt und es entstanden neue Kunstströmungen. Vor allem gewannen Individualität und Subjektivität an Bedeutung. Kunstschaffende strebten nach Originalität, einer einzigartigen künstlerischen Stimme und setzten vermehrt ihre eigenen Ideen und Visionen um.
Neben der Porträtwand lädt der Archivschrank zum Entdecken ein. Jede der zwölf Schubladen ist einer herausragenden künstlerischen Persönlichkeit gewidmet [32–43]. Der Fokus liegt auf den weitverzweigten künstlerischen Netzwerken, den Karrierewegen, den Reisetätigkeiten und den wegweisenden Ausstellungen. Werkzeuge und andere Gegenstände aus dem Atelier gewähren Einblick in die künstlerische Praxis, darunter befindet sich beispielsweise die Malpalette des Malers und Bildhauers Hans von Matt [26].

1

Eduard Zimmermann, Hand des Künstlers, undatiert, Gips 26 x 25 x 10 cm, NM 5707

9

Johann Melchior Wyrsch, Selbstporträt, um 1767, Öl auf Leinwand, 62 x 52.5 x 4.5 cm, NM 10127

5

Liselotte Moser, Selbstporträt, 1930, Öl auf Leinwand, 39.5 x 33.5 cm, NM 10242

6

Liselotte Moser, Selbstporträt, 1976, Öl auf Pavatex, 33.2 x 24.2 cm, NM 10238

16

Unbekannt, Annemarie von Matt im Atelier, 1940, Fotografie (Reproduktion), 38 x 30 cm

14

Gertrud Guyer Wyrsch, Familienbild, 1943, Öl auf Leinwand, 48 x 68 cm

15

Gertrud Guyer Wyrsch, Selbstporträt, 1947, Bleistift auf Papier, 68 x 53.2 cm

26

Hans von Matt, Malpalette des Künstlers, undatiert, Holz, Ölfarbe, 46 x 69 cm, NM 3784

Mythen

Mythen

Zu den zentralen Themen, mit denen sich Kunstschaffende in ganz Europa intensiv auseinandersetzten, gehörten biblische und mythologische Erzählungen. Dies spiegelt sich deutlich in der umfangreichen Sammlung des Nidwaldner Museums wider. Über einen langen Zeitraum hinweg war die Kirche einer der bedeutendsten Auftraggeber für Kunstschaffende. Besonders während des Mittelalters, der Renaissance und des Barocks übte die Kirche einen immensen Einfluss auf die Kunstproduktion aus, indem sie prächtige Gemälde, Skulpturen und Altäre für ihre Kirchen und Kathedralen in Auftrag gab. Ein Beispiel hierfür sind die Altarflügel aus der Kirche Stans, die das Martyrium der Thebäischen Legion darstellen [45].
Der Kunst fiel eine wichtige Rolle bei der Verbreitung religiöser Botschaften durch visuelle Darstellungen zu. Die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies, wie sie in der Bibel im Buch Genesis beschrieben wird, faszinierte über verschiedene Epochen hinweg aufgrund ihrer tiefgreifenden theologischen Bedeutung. Das Thema ist in einer kleinen Zeichnung von Melchior Paul von Deschwanden dargestellt [44]. Dramatischer wird es auf einem eindrucksvollen grossformatigen Gemälde mit dem Titel Die Erschaffung Evas im Paradies [47]. Nachdem Gott Adam aus Lehm geschaffen hat, lässt er ihn in einen tiefen Schlaf fallen, entnimmt ihm eine Rippe und erschafft daraus Eva. Diese Szene wird im Hintergrund des Gemäldes, fast schon verschwindend klein dargestellt. Dabei ist die Harmonie im Paradies bereits gestört. Die Tiere leben nicht mehr friedlich miteinander, sondern wirken ängstlich und aufgeschreckt. Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies sind dadurch bereits greifbar. Solche Darstellungen dienten dazu, den Verlust der menschlichen Unschuld, die Konsequenzen des Ungehorsams gegenüber Gott und die anschliessende Suche nach Erlösung bildhaft darzustellen.
Weniger häufig wurde die biblische Figur Abel dargestellt, wie sie um 1903 von Eduard Zimmermann als lebensgrosse Plastik umgesetzt wurde [46]. Eine Ausführung in Marmor befindet sich in Lausanne, in der Sammlung des Musée des Beaux-Arts. Abel war der Sohn von Adam und Eva und wurde von seinem Bruder Kain aus Eifersucht getötet. Es handelt sich um den ersten Mord, der in der Bibel beschrieben wird. Die Gewalt unter Menschen und der Umgang mit Schuld gehören zu den frühesten biblischen Motiven.
Die Mythen der griechischen und römischen Antike übten zu unterschiedlichen Zeiten einen bedeutenden Einfluss auf die europäische Kunst aus, insbesondere die italienische Renaissance gilt als Epoche der Wiederbelebung der Antike. Ein bedeutender Wegbereiter für eine neue Antikenbegeisterung im 18. Jahrhundert war der Kunsthistoriker und Archäologe Johann Joachim Winckelmann (1717–1768). Sein Porträt taucht in der malerischen Reproduktion eines Gemäldes von Angelika Kaufmann (1741–1807) auf, geschaffen von Melchior Paul von Deschwanden [51]. Winckelmann betonte die Wichtigkeit der Nachahmung der griechischen Kunst. Tatsächlich wurde das Studium antiker Werke zum unverzichtbaren Bestandteil jeder künstlerischen Ausbildung. Das wird anhand der drei grossformatigen Zeichnungen deutlich, die nach antiken Skulpturen entstanden sind [48–50]. Kunstschaffende unternahmen Studienreisen, unter anderem nach München, wo im Jahr 1830 die Glyptothek eröffnet wurde – die weltweit erste öffentliche Sammlung von Skulpturen. Diese umfasst hauptsächlich Werke aus der griechischen und römischen Antike, darunter auch den berühmten «Barberinischen Faun», den Adalbert Baggenstos während seiner Studienzeit in München abzeichnete [49].
Die Anziehungskraft antiker Mythen besteht bis heute. Dabei unterscheiden sich die jeweiligen künstlerischen Ansätze sowohl stilistisch als auch in Bezug auf das Medium stark voneinander. Annemarie von Matt bewahrte Steine, Pflanzen und Muscheln aus Griechenland in einer Schachtel auf [53], Hans von Matt schuf eine abstrakte Interpretation der berühmten «Nike von Samothrake» [55], während Leonard von Matt ein faszinierendes Detail der Skulptur «Raub der Persephone» von Gian Lorenzo Bernini fotografisch festhielt [56]. Das gleiche Thema setzte Liselotte Moser als detailreiche Stickerei um [57].
Mythen sind nicht nur Relikte vergangener Zeiten, sondern können auch in der Gegenwart entstehen. Ein letzter Abschnitt des thematischen Schwerpunkts «Mythen» widmet sich den beiden lokalen Helden Struthan Winkelried und Arnold von Winkelried. Struthan, der einen Drachen getötet haben soll – ein Motiv, das sich bereits in antiken Mythen findet –, ist der weniger bekannte der beiden Helden [58+59]. Die Legende um Arnold von Winkelried hingegen ist weit verbreitet, obwohl ihre historische Authentizität nicht belegt werden kann. Heldenfiguren wie Arnold von Winkelried erlangten im Zuge der Entstehung von Nationalstaaten grosse Popularität. So wurde er nach der Gründung des neuen Bundesstaates im Jahr 1848 als Freiheitskämpfer und selbstloser Held zum symbolischen Schutzpatron erhoben. Der Legende zufolge stürzte sich Winkelried in der Schlacht von Sempach in die gegnerischen Reihen, um eine Lücke für seine nachstürmenden Kameraden zu schaffen. Sein Opfertod ermöglichte seinen Mitstreitern den Durchbruch und trug massgeblich zum Sieg der Eidgenossenschaft über die Habsburger bei. Das Motiv seines heldenhaften Todes wurde in zahlreichen Werken dargestellt, am prominentesten im Winkelrieddenkmal auf dem Dorfplatz in Stans, sowie in vielen Gemälden, Skulpturen und Gebrauchsgegenständen. Der Mythos wurde stets auf unterschiedliche Weise genutzt, von touristischer Vermarktung bis hin zur politisch-militärischen Instrumentalisierung. Künstler wie Christian Philipp Müller begegnen diesem Mythos daher mit einer humorvollen und zugleich kritischen Haltung. Er gestaltete das Plakat [66] sowie eine eins zu eins grosse Nachbildung des Morgensterns [67], mit dem Winkelried in der Denkmaldarstellung erschlagen wird, um die Gewalttätigkeit des Mythos zu hinterfragen.
Das Treppenhaus schliesst den Themenbereich Mythen durch ausgewählte Werke ab. Die Bronzeskulptur Die drei Grazien von Eduard Zimmermann [72] wurde vom Künstler auch im «Drei-Grazien-Brunnen» im Eingangsbereich der ETH Zürich umgesetzt. Neben einer weiteren kleinen Plastik des Bildhauers [74] sind eine Tuschezeichnung von Anton Flüeler [73] und eine Lithografie von Max von Moos [75] zu sehen.

45

Unbekannt, Altarflügel aus der Kirche Stans mit dem Martyrium der Thebäischen Legion, um 1530, Öl auf Holz, 120 x 57 x 4 cm, NM 929 und NM 930

44

Melchior Paul von Deschwanden, o.T. (Gott, Adam und Eva im Paradies), undatiert, Bleistift auf Papier, 31.2 x 22.6 cm, NM 4276

47

Unbekannt, Die Erschaffung Evas im Paradies, 17. Jh., Öl auf Leinwand, 144 x 269 cm, NM 3841

46

Eduard Zimmermann, Abel, um 1903, Gips, patiniert, 46 x 180 x 80 cm, NM 2520

51

Melchior Paul von Deschwanden, Johann Joachim Winckelmann, nach Angelika Kaufmann, undatiert, Öl auf Leinwand, 65 x 48 cm, NM 2817

48

Adalbert Vokinger (zugeschrieben), Laokoon, 19. Jh., Kreide auf Papier, 64.5 x 77.3 cm, NM 13200

49

Adalbert Baggenstos, Barberinischer Faun, 3. Mai 1881, Kohle auf Papier, 64.5 x 77.3 cm, NM 5469

50

Melchior Paul von Deschwanden (zugeschrieben), Homer, undatiert, Kohle auf Papier, 64.5 x 77.3 cm, NM 2949

53

Annemarie von Matt, VITALIS Griechenland, um 1950, Schachtel mit Stein, Muschel, Schnecke, Blume, 8 x 13.5 x 9.5 cm, NM 15053

55

Hans von Matt, Nike, 1970, Bronze, 53 x 17.5 x 15 cm, NM 3582

56

Leonard von Matt, o.T. (G. L. Bernini, Raub der Persephone), undatiert, Fotografie, 42 x 50 cm, NM 10719

57

Liselotte Moser, Raub der Persephone, um 1950, Handstickerei, 90.5 x 125.7 cm, NM 10310.2

58

Unbekannt, Struthan Winkelried, um 1900, Öl auf Leinwand, 62 x 49 cm, NM 2835

59

Theodor von Deschwanden, Winkelried mit Drachen, 1848, Öl auf Leinwand, 100 x 77 cm, NM 400

66

Christian Philipp Müller, Zwischen den Akten (Dromedar vor dem Winkelried-Denkmal), 2016, Serigrafie, 130 x 93.5 cm

67

Christian Philipp Müller, Morgenstern, 2016, Carrara-Marmor, 13 x 130 x 13 cm, NM 14219

72

Eduard Zimmermann, Die drei Grazien, 1920-22, Bronze, 44 x 25 x 25 cm, NM 7831

74

Eduard Zimmermann, Frau mit Reh, 1915-16, Gips, 31.5 x 16 x 11 cm, NM 3797

73

Anton Flüeler, Ruhender Faun, 1945, Tusche auf Papier, 50.1 x 70.2 cm, NM 4313.01

75

Max von Moos, o. T., 1967, Lithografie, 64.4 x 64.4 cm, NM 13877

Porträt

Porträt

Das zweite Obergeschoss widmet sich mit den Themenschwerpunkten Porträt, Land und Leute sowie Körper ganz der Darstellung des Menschen in der Kunst.
Wenn wir einem Menschen begegnen, richtet sich unser Blick meist unmittelbar auf sein Gesicht. In der umfangreichen Sammlung des Nidwaldner Museums finden sich zahlreiche Porträts, die uns Einblicke in das facettenreiche Spektrum der Porträtmalerei bieten. Die Kunst des Porträts hat eine lange Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht. Doch erst während der Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert entwickelte sie sich zu einer eigenständigen Gattung. Kunstschaffende begannen, Porträts zu malen, die nicht mehr nur als Teil religiöser oder historischer Szenen dienten. Auftraggeber, darunter Adlige und wohlhabende Bürgerinnen und Bürger, liessen vermehrt Porträts von sich anfertigen. So entwickelte sich die Porträtmalerei zu einer bedeutenden Form des künstlerischen Ausdrucks.
Ein Porträt fing nicht nur das physische Erscheinungsbild der dargestellten Person ein, sondern verriet anhand der Frisur und Kleidung sowie der Accessoires und Attribute auch etwas über ihren gesellschaftlichen Status. Rasch wird ersichtlich, dass im Porträtraum die unterschiedlichsten Menschen aufeinandertreffen. Die dargestellten Personen lebten nicht nur zu unterschiedlichen Zeiten, sondern führten auch grundverschiedene Leben. Ein Lachender Fischer [91] trifft auf ein träumendes Mädchen am Fenster [90], ein Heiliger [92] auf einen Lehrer [95], ein harmonisches Paar [96] auf ein streitendes [102], ein realistisches Frauenbildnis [106] auf ein abstraktes, nicht weiter definierbares Porträt [109].
Die Gegenüberstellung eines Gemäldes der Erzherzogin Isabella Clara Eugenia von Spanien [77] mit einer Fotografie der Wäscherin «Ängelini» [78] veranschaulicht die Unterschiede in den menschlichen Biografien. Das Gemälde, das um 1630 von einem Nachfolger des renommierten flämischen Malers Peter Paul Rubens geschaffen wurde, zeigt die imposante Erzherzogin Isabella (1566– 1633), Statthalterin der Spanischen Niederlande. Es ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie Porträts als Mittel zur Darstellung von Macht und politischem Einfluss dienten. Isabella trägt eine perlenbesetzte Krone. Perlen waren ein Symbol für Reichtum und Prestige, weil sie aus unterschiedlichen Weltregionen nach Europa geschafft werden mussten – Spanien besass zu jener Zeit ein bedeutendes Kolonialreich. Die Fotografie des «Ängelini» hingegen, aufgenommen von Leonard von Matt um 1940, zeigt Katharina Josepha Angelika Lussi (1878–1952), eine Wäscherin, die in grossen Hotels im Berner Oberland tätig war. In der Zwischensaison kehrte sie jeweils nach Oberdorf zurück und war bekannt für ihre Vorliebe für Tabak.
Obwohl die Lebensumstände von Isabella und Ängelini grundlegend verschieden waren, teilen die beiden Frauen eine selbstbewusste Haltung und die Bedeutung der Kleidung und Accessoires in ihren Porträts. Ängelini trägt ihre Haare hochgesteckt mit einem traditionellen «Haarpfiil». Er bildet neben der «Schuifle», den mit Agraffen am Göller befestigten Silberketten und dem «Halsbätti» einen Teil des Nidwaldner Trachtenschmucks. Das Tragen von Schmuck war lange Zeit ein Privileg der städtischen Bevölkerung und der höheren Schichten auf dem Land. Durch Auslandreisen und den Dienst in fremden Ländern änderte sich dies allmählich. Es ist anzunehmen, dass vereinzelt Schmuckstücke als Geschenke oder Handelsware in die Heimat gelangten. Lokale Goldschmiede übernahmen bald darauf die Anfertigung des Trachtenschmucks und prägten somit die regionale Identität.
In der Vitrine werden neben Skizzen von Unbekannten weitere Persönlichkeiten vorgestellt, wie der bedeutende Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der nach dem Franzoseneinfall von 1798 für kurze Zeit in Stans weilte und hier seine pädagogischen Ideen vorantrieb [83]. Ebenfalls bemerkenswert ist das kleine Porträt von Louis Wyrsch (1793–1858), auch bekannt als «Borneo Louis» [85]. Wyrsch war mit den holländischen Kolonialtruppen im Einsatz auf Borneo und später dort Militär- und Zivilkommandant.
Die hier zusammengeführten Porträts verdeutlichen, wie Kunstwerke von individuellen Geschichten erzählen und gesellschaftliche Entwicklungen, kulturelle Traditionen sowie den Einfluss unterschiedlicher Lebensumstände widerspiegeln. Die Vergangenheit war nicht statisch, vielmehr fanden Kunstwerke, Güter, Traditionen und Menschen ihren Weg nach Nidwalden – oder gelangten von Nidwalden in die Welt.

91

Frans Hals, Lachender Fischer, 17. Jh., Öl auf Leinwand, 94 × 83.5 cm, NM 15461

90

Hans von Matt, Mädchen am Fenster, 1931, Terrakotta, 52.5 × 36 × 33 cm, NM 3585

92

Gentile Bellini, Bildnis des hl. Lorenzo Giustiniani, um 1465, Öl auf Holz, 46 × 42 cm, NM 15453

95

Oscar Cattani, Josef Stählin, undatiert, Öl auf Leinwand, 71.5 × 57 cm, NM 14336

96

Liselotte Moser, Erste Symphonie, um 1930, Öl auf Leinwand, 74 × 107 cm, NM 10226

102

Max von Moos, o. T., undatiert, Mischtechnik auf Pavatex, 85 × 60 cm, NM 13741

106

Karl Georg Kaiser, E. Kaiser-Baggenstos, 1889, Öl auf Leinwand, NM 2814

109

Joan Miró, o. T., undatiert, Lithografie, 61.5 × 79 cm, NM 13827

77

Peter Paul Rubens Nachfolger, Erzherzogin Isabella, um 1630, Öl auf Leinwand, 154 × 117 cm, NM 15473

78

Leonard von Matt, Ängelini Katharina Josepha Angelika Lussi, um 1940, Fotografie, 26.5 × 24.5 cm, NM 15129

83

Joseph Maria Christen, Pestalozzi, um 1800, Terrakotta, 15.7 × 3 cm, NM 1236

85

Jost Vital Troxler, Louis Wyrsch, genannt Borneo Louis, um 1850, Öl auf Leinwand, 25.5 × 20 cm, NM 740

Land und Leute

Land und Leute

Der Themenbereich Porträt leitet nahtlos zum nächsten über, welcher unter dem Titel «Land und Leute» steht. Porträtiert sind hier Menschen aus der Region, wobei der ländliche Charakter prägend ist. Zwei Fotografien des Luzerner Fotografen Peter Ammon (*1924) lassen in Nidwaldner Stuben blicken [112+113]. Ammon gelangte schon um 1952 an 4 x 5-Zoll-Farbfilme aus den USA, mit denen er Reportagen über das ländliche Leben in der Schweiz machte. Diese Arbeiten sind in der Schweiz einzigartig und verfügen über einen hohen fotografiegeschichtlichen Wert.
Leonard von Matt hingegen betrachtete seine Nidwaldner Fotografien lediglich als «Trainingsaufnahmen» [114–123]. Ursprünglich hatte er geplant, 1939 nach Paris zu gehen, um eine Fotofachschule zu besuchen. Doch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durchkreuzte seine Pläne, und er diente stattdessen als Oberleutnant im Militär. An seinen freien Tagen nutzte er die Gelegenheit, um ländliche Szenen festzuhalten. Sein Frühwerk, das auf den Zeitraum zwischen 1936 und 1946 datiert wird, dokumentiert das damalige Nidwalden kurz vor dem Übergang zu einer modernen Gesellschaft.
1939, als Leonard von Matt nach Paris wollte und der Krieg ausbrach, entstanden auch die zwei Älplerporträts von Liselotte Moser [124+125]. Die Künstlerin lebte 1939 bereits seit über zehn Jahren in Detroit. Die Porträts entstanden wohl auch nicht in der Schweiz, sondern in den USA, an einem Fest von Auslandschweizern.
1941, ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs, malte Cuno Amiet (1868 – 1961) die ehemalige Stansstader Kirche [126]. Amiet verbrachte während seiner Jugend seine Ferien oftmals in Stans, wo sein Grossvater mütterlicherseits lebte. Im dortigen Museum bewunderte er die Gemälde von Johann Melchior Wyrsch und kannte neben Robert Durrer (1867–1934) auch Hans von Matt, von dem die Büste der Nidwaldnerin stammt [127]. Ausserdem war Amiet über mehrere Jahre mit dem Stanser Bildhauer Eduard Zimmermann in der Eidgenössischen Kunstkommission tätig.
«Vom einfachen Dorfpolizisten zum gefeierten Fotografen» beschreibt den Werdegang von Arnold Odermatt (1925–2021) treffend. Vierzig Jahre lang hielt Odermatt seinen privaten und beruflichen Alltag in Fotografien fest [128–134]. Ab 1948 als Verkehrspolizist für die Nidwaldner Polizei tätig, führte er während seiner Dienstzeit eine Kamera mit sich, um Unfälle und polizeiliche Aktivitäten zu dokumentieren. Er fotografierte jedoch auch die landschaftliche Umgebung und das familiäre Umfeld. Seine Aufnahmen zeichnen sich durch ihre klare Komposition, den oft ungewöhnlichen Blickwinkel und den feinen Sinn für Humor aus. Unverhofft erfolgte in den 1990er-Jahren der Sprung vom Dorf in die Welt, als sein Sohn, der Regisseur Urs Odermatt, die Fotografien bei den Recherchen für seinen Spielfilm «Wachtmeister Zumbühl» entdeckte. Selbst der einflussreiche Kurator Harald Szeemann wurde auf ihn aufmerksam und präsentierte Odermatts Fotografien 2001 an der 49. Biennale in Venedig.
Ein verwandter Humor ist Melchior Imbodens (*1958) Fotografien aus der Serie «Nidwaldner Gesichter» eigen, in der er prägnante Persönlichkeiten aus Nidwalden festhielt. Darunter Ivo Sidler [137], der eine internationale Musikkarriere verfolgte. Diese Fotografien zeigen, wie auch die übrigen Werke dieses Themenbereichs, dass sich hinter den scheinbar idyllischen ländlichen Szenen Geschichten von globaler Bedeutung verbergen. Sie geben Einblicke in die Weltlage ihrer Zeit, in internationale Karrieren von Kunstschaffenden und in die Vernetzung von Nidwaldner Künstlerinnen und Künstler mit der (inter-) nationalen Kunstszene.

112

Peter Ammon, Alp Gummen, um 1950, Fotografie, 49 x 60 cm, NM 11396.1

113

Peter Ammon, Stanser Mädchen, um 1950, Fotografie, 49 x 60 cm, NM 11396.4

114

Leonard von Matt, Kehrsiten, April 1945, Fotografie, 40 x 40 cm, NM 15165

124

Liselotte Moser, Männerporträt (Älpler), 1939, Öl auf Leinwand, 81.5 x 58 cm, NM 10224

125

Liselotte Moser, Männerporträt (Älpler), 1939, Öl auf Leinwand, 81 x 58.3 cm, NM 10225

126

Cuno Amiet, Dorfplatz Stansstad, 1941, Mischtechnik, 40 x 49 cm, NM 287

127

Hans von Matt, Nidwaldnerin, 1937, Bronze, 37 x 41 x 25 cm, NM 3580

137

Melchior (Melk) Imboden, Ivo Sidler, Musiker, Jg. 1969, 1992, Fotografie, 40.5 x 30 cm, NM 9800

Körper

Körper

Die Darstellung des menschlichen Körpers ist seit der Antike ein zentrales Thema der Kunst. Die Erforschung der menschlichen Anatomie, der Körperlichkeit, der Bewegungen und der Proportionen bildete eine wesentliche Grundlage für die realistische Darstellung von Menschen in Heiligendarstellungen, Historienbildern, ja selbst Landschaftsdarstellungen.
Frauen hingegen waren lange Zeit vom Aktstudium ausgeschlossen oder nur in begrenztem Masse zugelassen. Die gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen über Nacktheit stellten eine grosse Herausforderung dar, ging es um die Akzeptanz von Frauen beim Malen nach dem Modell. Angelika Kaufmann musste das Gerücht dementieren, männliche Aktstudien angefertigt zu haben. Ein Beispiel für eine Aktzeichnung aus weiblicher Hand ist Liselotte Mosers Männerakt von 1924, der aus ihrer Studienzeit in Bern stammt [141]. Obwohl die Darstellung weiblicher Körper heute zu überwiegen scheint, waren historisch gesehen die meisten Aktmodelle Männer. Das hatte wesentlich damit zu tun, dass der männliche Körper als universaler Körper verstanden und deshalb bevorzugt wurde. Dies änderte sich erst im Übergang zum 20. Jahrhundert.
Der Stehende Frauenakt von Eduard Zimmermann [145] zieht unweigerlich den Blick auf sich. Die im Jahr 1934 geschaffene Plastik strahlt Anmut und Gelassenheit aus. Zimmermanns Skulpturen zeichnen sich durch klare, reduzierte und ruhige Formen aus. Die Darstellung der menschlichen Gestalt war eines seiner bevorzugten Themen. Während seiner Studienzeit in München wurde Zimmermann stark vom Bildhauer Adolf von Hildebrand beeinflusst. Auch die Skulpturen des rund dreissig Jahre jüngeren August Blaesi (1903– 1979) sind geprägt von einer statuarischen Ruhe, wobei ihr Körperbau weniger filigran wirkt als jener der Zimmermann’schen Skulpturen [144].
Die beiden Gemälde des St. Galler Künstlers Karl Felix Appenzeller (1892– 1964) zeichnen sich ebenfalls durch die Darstellung des weiblichen Akts in einer Atmosphäre der Ruhe aus. Seine Frauenakte wirken weder idealisiert noch symbolisch aufgeladen, sondern erscheinen in Bewegung und Haltung äusserst natürlich [143+147]. Die kleine Bronzeskulptur Ruhende [146] von Rudolf Blättler (*1941) wirkt in Stil und Ausführung hingegen weit archaischer, ebenso wie seine Liegende auf der Loggia [76]. Diese beiden Skulpturen zeigen die jahrzehntelange Auseinandersetzung des Künstlers mit dem menschlichen Körper und Fragen der Polarität beziehungsweise Einheit des weiblichen und männlichen Prinzips.
Im benachbarten Raum werden anatomische Studien und Gipsmodelle gezeigt, die dazu dienten, das Zeichnen des menschlichen Körpers zu lehren und zu üben. Im frühen Mittelalter wurde das Sezieren von Leichen und das Studium der Anatomie von der Kirche eingeschränkt, da sie das Aufschneiden von Körpern als eine Verletzung der religiösen Vorstellung der Würde des Körpers und der Unversehrtheit nach dem Tod betrachtete. Mit dem Beginn der Renaissance im 14. Jahrhundert änderte sich diese Haltung allmählich. Sowohl Wissenschaftler als auch Künstler erkannten die Bedeutung anatomischen Wis-sens für eine realistische Darstellung des menschlichen Körpers. Einige Künstler wie Leonardo da Vinci führten heimlich oder unter eingeschränkten Bedingungen anatomische Studien durch, um ihr Verständnis des menschlichen Körpers zu vertiefen.
Das anatomische Werk von Johann Melchior Wyrsch aus dem Jahr 1776 diente als Leitfaden für andere Maler, die das Studium der Anatomie und Proportionen des menschlichen Körpers erlernen wollten [160]. Wyrsch selbst besass herausragende Kenntnisse des Körperbaus und vermittelte seinen Schülern sorgfältige Beobachtungsfähigkeiten. Zur Unterstützung anatomischer Studien dienten auch die ausgestellten Gipsmodelle, die wahrscheinlich aus der Werkstatt von Melchior Paul von Deschwanden stammen [148–156]. Diese Modelle wurden von seinen Schülern, darunter Adalbert Baggenstos [157+161], zu Studienzwecken kopiert.
Im Treppenhaus begegnen uns abstrakte Formen und Körper in den Werken von Verena Loewensberg [162], Gertrud Guyer Wyrsch [163] und Max Bill [164]. Wobei der Winterthurer Künstler Max Bill die Bezeichnung «abstrakt» abgelehnt hätte. Er gehörte zur Zürcher Schule der Konkreten, wie auch Verena Loewensberg. Bill charakterisierte die Kunstströmung wie folgt: «konkrete kunst nennen wir jene kunstwerke, die aufgrund ihrer ureigenen mittel und gesetzmässigkeiten – ohne äusserliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung, also nicht durch abstraktion – entstanden sind.» Gertrud Guyer Wyrsch hatte sicherlich ein gelasseneres Verhältnis zum Begriff der Abstraktion. In ihrem Werk spiegeln sich verschiedene Strömungen und Kunstauffassungen wider, von nachimpressionistischen Tendenzen zu Beginn ihres Schaffens bis hin zur formalen Orientierung an den Zürcher Konkreten in den 1970er-Jahren. Ein Beispiel dafür ist der durchbrochene Kasten von 2008, der noch entsprechende Einflüsse erkennen lässt [163]. Tatsächlich wurden die Werke von Guyer Wyrsch und Bill bereits 1957 gemeinsam in der Ausstellung «La peinture abstraite en Suisse» im Kunstmuseum Neuenburg präsentiert.

141

Liselotte Moser, Männerakt, um 1924, Kohle auf Papier, 28.4 x 22.8 cm, NM 10321

145

Eduard Zimmermann, Stehender Frauenakt, 1934, Gips, 166 x 57 x 40 cm, NM 5688

144

August Blaesi, Schreitender Frauenakt, undatiert, Bronze, 114 x 43 x 28 cm, NM 2611

143

Karl Felix Appenzeller, Nu au miroir, 1933, Öl auf Leinwand, 116 x 89.5 cm, NM 15394

147

Karl Felix Appenzeller, Nach dem Bad, 1922, Öl auf Leinwand, 80 x 65 cm, NM 15389

146

Rudolf Blättler, Ruhende, undatiert, Bronze, 6 x 21 x 22 cm, NM 2618

76

Rudolf Blättler, Liegende Frau, 2009, Bronze, 28 x 97 x 150 cm, NM 14328

160

Johann Melchior Josef Wyrsch, Lehrbuch Anatomie, 1776, Rötel und Tusche auf Papier, 21.8 x 17.5 cm, NM 2580

148

Melchior Paul von Deschwanden (zugeschrieben), Studie Hände und Füsse, undatiert, Öl auf Karton, 53 x 49.5 cm, NM 2849

157

Adalbert Baggenstos, Studie Füsse nach Modell, 20.11.1880, Kreide auf Papier, 65.8 x 82 cm, NM 5471

161

Adalbert Baggenstos, Anatomie Schädel, 1884, Bleistift auf Papier, 55 x 46.8 cm, NM 5485

162

Verena Loewensberg, o.T., 1971, Serigrafie, 71.5 x 35.6 cm, NM 13760

163

Gertrud Guyer Wyrsch, o.T. (durchbrochener Kasten), 2008, Stahlblech, oxidiert, 25 x 24 x 24.5 cm,

164

Max Bill, o.T., 1971, Serigrafie, 40.9 x 49.4 cm, NM 13889

Natur

Natur

Die Bedeutung der Natur und das Verhältnis des Menschen zu ihr sind heute hochaktuelle Themen. In der Kunst spielten Natur- und Landschaftsdarstellungen jedoch lange Zeit keine herausragende Rolle. Landschaften dienten in der römischen und griechischen Kunst als blossen Hintergrund für mythologische Erzählungen. Im Mittelalter wurden Landschaften häufig idealisiert und stilisiert dargestellt, sie fungierten als Kulisse für religiöse Darstellungen. Blumen wurden vor allem als schmückendes Beiwerk und Ornament verwendet. Mit der Renaissance wuchs das Interesse an der realistischen Wiedergabe der Natur. Ein Beispiel hierfür ist der renommierte Künstler Albrecht Dürer (1471–1528), der detaillierte Studien von Landschaften und Pflanzen anfertigte. Dürer war ein grosses Vorbild der Künstlerin Liselotte Moser, die als «Hommage an Dürer» hunderte Zeichnungen und Aquarelle von Pflanzen und Insekten schuf [177, 179, 181].
Imposant nimmt sich das Werk Pass [165] von Vreni Wyrsch (*1969) aus, das durch den ungewöhnlichen Bildausschnitt und die technische Ausführung überrascht. Die Flächen von Wasser, Schnee und Gestein verschmelzen nahezu abstrakt miteinander. Die Künstlerin arbeitete viele Stunden, Tage und Monate an dieser Landschaftsszene. Ihre Bilder entstehen stets mit Bleistift und Buntstift und zeugen nicht nur von zeichnerischem Können, sondern auch von einem hohen Mass an Akribie und Geduld.
Die Videoarbeit des Künstlerduos Hemauer/Keller, bestehend aus Christina Hemauer (*1973) und Roman Keller (*1969), zieht den Blick hinauf zum Himmel [166]. Das Duo ist aufgrund jahrelanger Recherchen und des Austauschs mit namhaften Klimawissenschaftlern überzeugt, dass sich die Farbe des Himmels unter dem Einfluss des Menschen verändert. Der erhöhte Ausstoss von CO2 beeinflusst die Zusammensetzung der Atmosphäre und damit die Streuung des Sonnenlichts, welche für die Farbe des Himmels ausschlaggebend ist. Hemauer/ Keller schlagen deshalb eine Langzeitbeobachtung des Himmels vor. 2022 installierten sie auf dem Dach des Museumspavillons einen eigens dafür entwickelten Apparat. Alle 30 Sekunden schossen zwei Kameras ein Foto vom Himmel über Stans. Diese wurden zu kurzen Filmen kompiliert und Tag um Tag erweitert.
An der Wand eröffnet sich ein Panorama an Landschafts- und Pflanzenstudien [168–197]. Darunter finden sich naturgetreue Zeichnungen von Melchior Paul von Deschwanden, Louis Leuw (1828–1892) oder Liselotte Moser, aber auch expressive Seestücke von Charles Wyrsch (1920–2019), zarte Aquarelle von Rudolf Blättler und naiv anmutende Zeichnungen von Toni Schmitter (1962– 2000). Die unterschiedlichen Zeichnungen von Tannen korrespondieren mit René Odermatts (*1972) Ameisenbär [167], einem Gebilde, das auf den ersten Blick natürlich erscheint, tatsächlich aber vom Künstler mühevoll zum Wurzelgebilde geschnitzt wurde.
Den Abschluss dieses Raumes bilden drei kleinere Landschaftsdarstellungen von Jakob Joseph Zelger [198–200]. Zelger erhielt seine Ausbildung ab 1830 in Genf und verfeinerte sein Talent im Atelier des renommierten Gebirgsmalers François Diday (1802–1877). Bereits früh fanden seine Ölgemälde Käufer. Zelger bildete talentierte Schüler aus, darunter war zeitweise auch der angesehene Luzerner Maler Robert Zünd (1827–1909). Eine Studienreise im Jahr 1849 führte Zelger über Brüssel nach England, wo er Kontakte zur englischen Aristokratie knüpfte. Diese erwiesen sich als äusserst bedeutsam, als er sich 1851 in Luzern niederliess und in unmittelbarer Nähe des Hotels Schweizerhof sein Atelier errichtete. In dieser Zeit erreichte die Alpenmalerei, im Zuge des florierenden Tourismus, ihren Höhepunkt. Namhafte Persönlichkeiten wie Richard Wagner (1813–1883) erwarben Zelgers Werke. Einen Schub erhielt Zelgers Karriere 1868, als keine Geringere als Königin Victoria von England (1840–1901) auf ihrer Schweizer Reise den Künstler beauftragte, sechs Ölgemälde und zwei Aquarelle anzufertigen.
Im benachbarten Raum, der einst als Küche diente, steht das Stillleben im Zentrum. Dieses Genre ist in der Sammlung des Museums nicht stark vertreten. Die präsentierten Prunkstücke stammen aus der Dauerleihgabe der Frey-Näpflin-Stiftung. Beim Trunkenen Silen mit Faun und Bacchantin [202] handelt es sich wohl um die Variation eines Gemäldes des flämischen Künstlers Anthonis van Dyck (1599–1641). Im Mittelpunkt steht die Figur des Silens, der zur Gefolgschaft des Weingottes Dionysos gehört. Zwar nicht rauschhaft, aber dafür umso opulenter präsentiert sich das grosse Jagdstillleben des flämischen Künstlers Jacob van der Kerckhoven (1637–1712), eines namhaften Malers des Barocks [203]. Neben Reichtum und Fülle, Sinnlichkeit und Genuss findet auch feiner Humor einen Platz in diesem Ausstellungsraum, indem die Gemälde mit einer Radierung von Markus Raetz [201] und einem Aquarell von Liselotte Moser kontrastiert werden. Dabei entpuppt sich Mosers Stillleben bei genauer Betrachtung als ein verstecktes Selbstporträt der Künstlerin [204].

177

Liselotte Moser, Blumenstudie, undatiert, Aquarell auf Papier, 33 x 46 cm, NM 16108.1

179

Liselotte Moser, Schmetterlingsstudien (Papilio asterius), undatiert, Zeichnung, aquarelliert, 33 x 46 cm, NM 16100.18

181

Liselotte Moser, Pflanzenstudie, undatiert, Aquarell auf Papier, 33 x 46 cm, NM 16108.2

165

165 Vreni Wyrsch, Pass, 2019, Acryl auf Sperrholz, 165 x 135 cm, NM 15277

166

Hemauer/Keller, Observing Human Skies, 2021, Video, 180 Min.

167

Réne Odermatt, Ameisenbär, 2016, Nussbaum, geölt, 196.5 x 100 x 80 cm, NM 14260

198

Jakob Joseph Zelger, Uttenberg Luzern, undatiert, Öl auf Leinwand, 66 x 48 cm, NM 438

199

Jakob Joseph Zelger, Fideris, undatiert, Öl auf Leinwand, 66 x 50.5 cm, NM 421

200

Jakob Joseph Zelger, Walensee, undatiert, Öl auf Leinwand, 51 x 67 cm, NM 500

202

Anthonis van Dyck (Werkstatt), Trunkener Silen mit Faun und Bacchantin, um 1620, Öl auf Leinwand, 108.5 x 91 cm, NM 15465

203

Jacob van der Kerckhoven, Jagdstillleben, um 1700, Öl auf Leinwand, 139 x 172.5 cm, NM 15471

201

Markus Raetz, Anne Trilogie II, 1970, Radierung, 49.8 x 69.8 cm, NM 13844

204

Liselotte Moser, Teekanne, 1967, Aquarell auf Papier, 55.5 x 48 cm, NM 10466

Volksglaube

Volksglaube

Der Sturm peitscht über das Wasser und lässt die Wellen bedrohlich hochschla-gen. Das Schiff mit seinen Passagieren ist in Seenot geraten. Doch würden wir heute nichts von diesem Ereignis wissen, wäre nicht eine Rettung erfolgt. Das Votivbild, das die beschriebene Szene malerisch festhält, wurde zum Dank für die Errettung aus einer Notsituation angefertigt und einer Kirche oder Kapelle übergeben [216]. Viele Votivbilder, auch Ex voto genannt, zeugen davon, dass sich die Menschen gegenüber den elementaren Kräften der Natur noch bis ins 19. Jahrhundert hinein vielfach ohnmächtig fühlten. Angesichts der schlechten medizinischen Versorgung auf dem Land, welche bei Krieg, Krankheit und Naturkatastrophen zu grossem Leid führte, ist es nicht verwunderlich, dass höhere Mächte um Hilfe angerufen wurden.
Das Nidwaldner Museum besitzt eine beachtliche Zahl an Votivbildern in seiner Sammlung. Im 18. Jahrhundert erreichte die Votivkunst mit der Schule des renommierten Künstlers Johann Melchior Wyrsch aus Buochs ihren qualitativen Höhepunkt. Quantitativ zeigte sich Mitte des 19. Jahrhunderts die höchste Intensität dieser Praxis, was auf die starke anti-aufklärerische Bewegung zurückzuführen ist, welche die Innerschweiz erfasst hatte. Die Tradition brach nie ganz ab und wird in abgewandelter Form bis heute fortgesetzt, wie die Werke von Donato Amstutz (*1969) [214] und Barbara* Gut (*1951) zeigen [211, 218, 219].
Votivtafeln geben Auskunft über die Sorgen und Ängste der Menschen, ähnlich wie andere der präsentierten Objekte. Eines der wertvollsten ist der Rosenkranz von Ritter Melchior Lussy [226] aus dem 16. Jahrhundert, der das Winkelriedhaus bewohnt und seine Architektur geprägt hat. Zu den jüngsten Objekten in der Vitrine zählt das Notsöckli [223] von 2012 der Künstlerin Eva Zwimpfer (1926–2023). Und auch die Künstlerin Annemarie von Matt beschäftigte sich intensiv mit Volksbräuchen und Heiligenfiguren. Ihre Erste Mutter Gottes zeichnete sie mit Anfang zwanzig, in den Jahren 1926/27 [232].
Imposant wirkt die Darstellung „Niklaus von der Flüe rettet die Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg“ [233]. Wie ein Fels in der Brandung erhebt sich aus dem Meer von Schädeln und Skeletten die Friedensinsel Schweiz. Auf der Spitze des Berges kniet Bruder Klaus, die Arme ausgestreckt, den Blick auf Gott gerichtet. Das Bild berichtet jedoch nicht nur vom Isolationismus der Schweiz, sondern ebenso von den weltumspannenden Auswirkungen des Krieges. Die Fahnen der beteiligten Nationen und die Kopfbedeckungen der verschiedenen Armeen verweisen auf die Globalität des Infernos und die Umgestaltung der politischen Landkarte. Bei der Darstellung handelt sich um einen Entwurf aus der Feder des Nidwaldner Staatsarchivars Robert Durrer für das Fresko in der unteren Ranftkapelle. Bei der Ausführung wurde Durrer vom Glasmaler Albert Hinter (1867–1957) und vom jungen Hans von Matt unterstützt. Das monumentale Votivbild ist bis heute zu sehen. Auf dem gemalten Rahmen ist zu lesen: «Im August 1914, als der Weltkrieg Tod und Verderben brachte, haben wir Dich um Deine Fürbitte bei Gott angerufen. Lob und Dank Dir seliger Bruder Klaus. Unser liebes Vaterland blieb wunderbar behütet & verschont.»

216

Ex voto, vor 1741, Öl auf Holz, 50 x 39.5 cm, NM 285

214

Donato Amstutz, o. T. (Ex voto), 2022, Handstickerei auf Stoff, 44 x 35.5 cm

211

Barbara* Gut, o. T., undatiert, Mischtechnik, 13.4 x 5.9 cm

218

Barbara* Gut, Ex voto (Hand), undatiert, Mischtechnik, 10.3 x 6.7 cm

219

Barbara* Gut, Ex voto (Herz), undatiert, Mischtechnik, 10.9 x 11.8 cm

226

Rosenkranz von Ritter Melchior Lussy, 16. Jh., 197 cm (Gesamtlänge), NM 7832

223

Eva Zwimpfer, Notsöckli, 2012, Wolle, Münzen, Glasperle, 19 x 21 cm, NM 13602

232

Annemarie von Matt, das war die erste Muttergottes die ich zeichnete etwa 1926 oder 27, 1926/27, Bleistift auf Papier, 25 x 19 cm, NM 15047

233

Robert Durrer, Niklaus von der Flüe rettet die Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg, 1920, Mischtechnik auf Papier, 78.5 x 177.5 cm, NM 10571

Tod und Transzendenz

Tod und Transzendenz

«Memento mori» bedeutet übersetzt so viel wie «Bedenke, dass du sterblich bist». Daran erinnert eine Kachel des Winterthurer Ofens, der zur originalen Renaissance-Ausstattung aus dem späten 16. Jahrhundert gehört. Die Künstlerin Judith Albert (*1969) greift das Thema der Vergänglichkeit auf poetische Weise in einer Videoarbeit auf, in der sie auf die Künstlerin Annemarie von Matt Bezug nimmt [236]. Langsam gleiten einzelne Buchstaben durch das Wasser, drehen sich schimmernd, bis sie auf dem Grund des Flussbetts zu liegen kommen. Die Buchstaben entstammen einem Zettel Annemarie von Matts mit der Zeile: «Entweder bin ich abwesend». Expliziter findet das Thema im doppelseitig bestickten Motiv des Totenkopfs von Donato Amstutz seinen Ausdruck [237]. Die Totenmasken in der Vitrine sollten das Antlitz eines Menschen über den Tod hinaus bewahren – bei der mittleren handelt es sich um die des Künstlers Melchior Paul von Deschwanden [240].
Aus dem angrenzenden Kabinett dringt ein goldener Schein. Rochus Lussis (*1965) mehrteilige skulpturale Arbeit Nimbus [234] bezieht sich auf die Darstellung von Heiligenscheinen und Gloriolen in der religiösen Kunst des Christentums. Die aus Lindenholz gefertigten und mit Blattgold überzogenen Objekte wirken wertvoll; der warme Schein des Goldes verheisst Gutes. Dennoch bleibt unklar, ob die Zerlegung des Heiligenscheins nicht auch ein Moment subtiler Kritik birgt. Die Arbeit steht in stillem Dialog mit einer kleinen geschnitzten Marienfigur, die in einer schreinartigen Nische des Gebäudes ihren Platz gefunden hat [235].
Der Rundgang endet im Festsaal, dessen fragmentarisch erhaltene Fresken von den frommen Taten des einstigen Hausherrn, Ritter Melchior Lussy, be-richten. In der linken oberen Ecke des Raumes eröffnet sich eine Darstellung der heiligen Stadt Jerusalem, das Ziel von Lussys Pilgerreise im Jahr 1583. Die Bekundung der eigenen Frömmigkeit und die Bereitschaft zur Busse waren stets auch mit der Hoffnung auf ein gutes Leben im Jenseits verbunden. Der Glaube an ein Leben nach dem Tod ist bis heute eine gängige Glaubenspraxis in vielen Religionen.
Die Thematik des Verschwindens und der Transzendenz findet sich in diesem Raum mehrfach aufgegriffen. Während Anton Egloffs (*1933) Sterne fallen [242 +243], betreibt Corinne Odermatt (*1985) mit ihrer Arbeit „Order out of Chaos“ [244] ein Vexierspiel: Handelt es sich beim dargestellten Sujet um ein schwarzes Loch, das alles verschluckt? Oder um den Urknall, mit dem alles begann? Sicher ist, dass in Odermatts Arbeit unterschiedliche Zeitebenen miteinander verschmelzen, zumal sich die Künstlerin sowohl an der Ästhetik des Barocks wie an jener des Comics orientiert.

237

Donato Amstutz, semper eadem, 2020, Handstickerei auf Stoff, 27.5 x 25.5 x 6.5 cm

240

Unbekannt, Totenmaske Melchior Paul von Deschwanden, 1881, Gips, 26 x 14 x 8 cm, NM 1363

234

Rochus Lussi, Nimbus, 2013, Lindenholz, blattvergoldet, 17-teilig, 80 bis 260 cm, NM 13706

235

Madonna, undatiert, Holzplastik, 20 x 7 x 5 cm, NM 12793

242 & 243

Anton Egloff, Étoile Filante Capricornus & Étoile Filante Corona, undatiert, Karton, lackiert, 225 x 19 x 20 cm, NM 14337 & NM 14338

244

Corinne Odermatt, Order out of chaos, 2021, Stoff, Acryl, Acrylwatte, 210 x 210 cm

Aussenraum

Aussenraum

Jo Achermann
Auf dem Areal des Nidwaldner Museums steht seit 2012 ein Pavillon aus Beton, dessen Fassaden durch die Bretterschalung an Holzhäuser erinnern. Hier setzte Jo Achermann drei «Zeichen», die sowohl Plastiken als auch Möbel sind. Mit den Vierkanthölzern konstruierte er für das Werk Einsicht eine durch eine Kreuzform ausgehöhlte Stele, welche die Umgebungsmauer überragt und als Blickfang dient. Verborgen in der südöstlichen Ecke ermöglicht ein Tisch-Bank-Gebilde, vom Künstler Schmarotzer genannt, eine Picknick-Pause. Die Rückenlehne überlappt die Umfassungsmauer und bildet sozusagen ein Scharnier zum Bereich ausserhalb des Museumareals. Geradezu als Kleinarchitektur erscheint der Kubus zwischen Pavillon und Altbau. Er lädt zum Sitzen ein, kann aber auch als Verbindung zwischen Alt und Neu betrachtet werden.

Christian Kathriner
Auf der Innenseite des Eingangsportals zum Garten des Winkelriedhauses hat Kathriner den minimal gehaltenen bronzenen Schriftzug NOVA EVROPA in klassischen Majuskeln platziert. Kathriners Intervention markiert eine imaginäre Grenzziehung und eröffnet vielschichtige Lesarten. In Europa gilt die Renaissancekultur als Ära des Dialogs, des geistigen Austausches und der Ideenflüge. Unter anderem wurde der Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden, woran sich die klassische Schriftart von NOVA EVROPA anzulehnen scheint. Die Positionierung der Schrift über der Türschwelle grenzt einen internen und einen externen Raum ab. Gerade die Platzierung an einem Durchgangsort deutet auf einen Zustand in der Schwebe hin – zwischen Abschottungshaltung und Aufgeschlossenheit.

Josef Maria Odermatt
Tatsächlich ausserhalb der Mauern des Nidwaldner Museums, auf der Wiese vor dem Hintereingang des Winkelriedhauses, am Veloweg Richtung Oberdorf, stehen seit 2022 neun Stelen. Es handelt sich um eine Skulpturengruppe des Nidwaldner Eisenplastikers Josef Maria Odermatt mit dem Titel Der Weg. Eigentlich gehören dazu noch drei weitere, aus Eisen geschweisste, körperhohe Stelen. Josef Maria Odermatt hatte sie 1994 für den ersten Stock des Stanser Salzmagazins konzipiert, als er dort eine Einzelausstellung hatte. Nun weisen sie den Passantinnen und Passanten den Weg ins Museum.

Impressum

Impressum

Leiterin Nidwaldner Museum
Carmen Stirnimann

Kuratorin der Ausstellung
Jana Bruggmann

Ausstellungsarchitektur/Szenografie
Roland Heini

Grafik Ausstellung
Beat Stadler

Texte Ausstellung
Jana Bruggmann

Künstlerbiografien
Amélie Joller

Korrektorat
Agi Flury

Ausstellungsaufbau
Jozef Lauwers, Thomas Odermatt, Loris Passafaro

Bauten
Holzbau Niederberger AG, Büren
Schreinerei A. Bucher AG, Malters

Beleuchtung
CKW Gebäudetechnik AG, Luzern

Malerarbeiten
Malerei Schmid AG, Stansstad

Metallarbeiten
Kreative Metallgestaltung Christen GmbH, Dallenwil

Sitzbänke
Felix Odermatt Innendekoration GmbH, Stans

Rahmen
Abry GmbH, Stans

Vitrinen
Glas Koller AG, Luzern

Objektrestauration
Karina von Matt, Stans

Kommunikation
KommunikationsWerkstatt GmbH, Luzern und Sarnen, Ruth Koch und Beatrice Suter

Grafik Begleitheft
Megi Zumstein

Fotografische Dokumentation
Christian Hartmann

Administration und Sekretariat
Elian Bartolini

Pädagogisches Begleitprogramm
Cyrill Willi, Amélie Joller

Sammlungstechnik/Art Handling
Thomas Odermatt

Hauswart
Jozef Lauwers

Praktikum
Amélie Joller

Zivildienst
Silvano Frei
Loris Passafaro

Vermittlung
Cyrill Willi, Leitung
Andrea Ambauen, Elionora Amstutz, Maja Schelldorfer, Susanne Hissen, Rahel Steiner

Betreuung der Ausstellung
Anita Odermatt, Leitung
Rosmarie Amstad, Elionora Amstutz, Silvia Burch, Barbara Fellmann, Silvano Frei, Helga Hanazky, Samuel Huser, Yvonne Jenni, Theresa Schmied, Heidy Schwertfeger, Elinor Wyser

Information und Buchung Workshops und privater Führungen
T: +41 (0)41 618 73 60 museum@nw.ch

Nidwaldner Museum Mürgstrasse 12
Postfach 1244
6371 Stans
T: +41 (0)41 618 73 60
T: +41 (0)41 610 96 06 (Winkelriedhaus)
museum@nw.ch nidwaldner-museum.ch

© Nidwaldner Museum, Künstlerinnen und Künstler, Autorinnen und Autoren, Stans, 2023.

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